Begegnungen im Grenzland

Jetzt ist die Ausstellung hier in Bellig. Der Ausstellungswechsel erfolgte von einem Tag auf den anderen. Deshalb ist das Atelierobjekt auch stehen geblieben. Es hat eine neue Funktion und erweitert die Ausstellung. So kann ich neu nachdenken. Auch die Arbeiten der anderen Künstler sehe ich neu. Die Texte sollten deutlicher teilhaben an der Präsentation. Darüber ist mir das genauere Hinschauen auf die ausgestellten Arbeiten signalisiert worden. Ich wollte wissen, ob die Texte mir verständlicher werden, wenn ich die Arbeiten ansehe. Obwohl ich kein Dänisch spreche ist das dänische Gedicht von Janus Kodal gerade umgekehrt so ein kleiner Erleuchter. „Stemmer“, sind das Stimmen oder Stämme? Beides könnte Sinn machen, aber sofern ich das richtig rate, wenn ein Lot sinkt, singen kann es ja nicht (oder doch?), sind es Stimmen. Gesangsstimmen oder Abstimmungseinheiten? Anne hat von Liedern gesprochen. Gesängen, über die sie ihre Wasserfarben gegossen hat. Die Bilder bekommen eine inhaltliche Kontur ohne gegenständlich zu sein. Gesänge, eine sehr emotionale Arbeit. Eine Liebeserklärung an die eigene Geschichte. Landesgeschichte zumal. Auch Heikes Arbeit ist eine Liebeserklärung: An ihre Familie, ihre Herkunftsfamilie und ihre Zukunftsfamilie. Vermischung, Vielfalt, Sorgfalt. Alles im Fluss. Das Wurzelgedicht von Dörte ist durch das wiederkehrende Wort „egal“ geprägt. Ich finde es nicht egal, im Sinne von gleichgültig, wie man geprägt ist, aber in der deutschen Übersetzung des Plattdeutschen steht auch „gleich“. Die Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten gar, werden besungen. Landschaft und Grenze, Pflanzen und Wurzeln im gleichen Grund, aus gleichem Grund? Auch ein Gesang.
Lars Waldemar, der einzige Mann unter den bildenden Künstlerinnen, hat mit dem martialischen Titel seiner Arbeit „Blut und Erde“ einigen Widerstand ausgelöst, seiner Bitte um Zusendung von Erdproben nachzukommen. Nicht nur bei mir. Viele meiner Adressaten hatten Schwierigkeiten, sich da zu engagieren. Es war mir fast peinlich zu fragen. Es klingt zu sehr nach Blut und Boden. Es gruselt mich beim Aussprechen. Da ist mir eine andere Geschichtserfahrung näher als bei der Grenzabstimmung. Und offenbar noch lebendig im Tabu. Es belastet uns mit Schuld. 
Lars Waldemar hat keine Unterschiede in der Erdfarbe gefunden, wo sie, weil kriegsblutgetränkt, zur Erinnerung aufgesucht wird. In den sehr schön ästhetisiert aufgeräumten Glaszylindern sieht man dennoch große Unterschiede in Farbnuancen und Körnung. Glückliche Fügung: Die Erde ist bunt. Auf den Text muss ich warten. Mein „Däne“ ist meine Schwester. Wir sehen uns, wenn die Ausstellung in Hadersleben stationiert sein wird.
Auffällig: Die dänischen Künstler haben eine stärkere emotionale und geschichtsbewusste Bindung an ihren Landesteil. Bei uns sind es wohl eher die Heimatvereine, die noch eine Erinnerung an die Geschichte der deutschen Mitsprache in Nordschleswig lebendig halten und damit auch einen größeren deutschen Aufschlag in Südschleswig verbinden. Mit der Muttermilch habe ich das nicht aufgenommen. Mit der Vaterautorität hat sich aber doch etwas eingeprägt: Zur dänischen Minderheit gehören wir nicht. So egal es mir sein kann, so sehr bestehen andere auf dem Minderheitenstatus, aber das Minenfeld ist weitgehend geräumt. Langsam ist es wirklich egal. Dennoch: Geschirr zum Zerschlagen findet sich an jeder Kaffeetafel, und die sind in Jütland, von Lenz besungen, hüben und drüben üppig, auch wenn der Tassenrand zum Horizont werden kann. Wir sitzen alle im Glashaus und unsere Worte könnten Steine sein.
Die Arbeit von Kate hat mich sehr gefreut. Auch, weil ich etwas gelernt habe! Das ikonische Bild des dänischen Königs Christian X auf dem Schimmel reitend mit einem blonden Kind aus dem Volk vor sich im Sattel kannte ich gar nicht. Jetzt hängt es als Kaleidoskop vervielfältigt in bunten Farben an der Wand und erzählt seine Geschichte als eine unendliche Variable. Der König reitet wie Herr Oluf aber nicht in den Wald. So begegnet er auch nicht Erlkönigs Tochter. Alles geht gut in dieser Geschichte vom Ritt an die neue Grenze. Trotzdem wird noch so eine kleine Anekdote angefügt: Der Schimmel soll nicht wirklich weiß gewesen sein, sondern weiß angestrichen. Beim Zurückführen in den Stall soll er dann tot zusammengebrochen sein. So hat Kate es mir erzählt. Keiner weiß ob es stimmt. Klingt nach übler Nachrede. Durch die deutsche Minderheit? Das Erzählen ist ein schönes Ventil. Gesang und Erzählen. Erzählen in Bildern. Wir haben doch immer noch viel Potential zum Ausschmücken unserer Grenzbeziehungen.
Und die letzten zwei Teilnehmenden? Katharina und Feridun? Sie haben biografisch so gar nichts mit unserer deutsch-dänischen Grenze am Hut. Aber Grenzerfahrungen haben beide gemacht. Feridun hat Katharina sein Buch „Leila“ übersandt zur Kontaktaufnahme. Ein Buch über seine Herkunft, die Geschichte seiner Mutter. Katharina hat das Buch Zeile für Zeile zerschnitten und ein Kunstobjekt daraus gemacht. Übereinander gekreuzte, beschriftete Linien zu fragilen, durchsichtigen Objekten gewunden. Die Geschichte, die Feridun darübergelegt hat, ist so in einzelnen Sätzen verdichtete Setzung, dass man nicht fortlaufend darüber hinweglesen kann. Das Filigrane Gespinst und die Wortgewalt. Das Durchlässige und das Dichte. Grenzen sind Kopfsache.
Damit ist das Meiste beschrieben. Bleibt nur noch das Erlebnis vom Wetterwechsel am Wochenende. Das große Glück des warmen August hatte uns ja so eine entspannte Eröffnung beschert im angenehm temperierten Ausstellungsraum mit Gesprächen, Flanieren und Verweilen im Drinnen und Draußen, beinahe festlich, die Veranstaltung. Auch wegen des Wetters! Die erste Ausstellungswoche hat es sich noch gehalten, einige Besucher gebracht und vor der Kaltfront Stille in die Ausstellungsräume gesenkt. Dahinter kam das Wochenende mit dem ersten leichten Gewitter. Am Freitagabend stieg eine weiße Wolke auf. Eine Wolke wie ein Bild von einem Gehirn. Als sie von Süden kommend vorbeizog, entluden sich Blitze in ihr. Gedankenblitze? Den zunächst blauen Himmel dahinter verdunkelten dichte, nachtblaue Wolken. Nur die eine blieb davor. Hell schwebend, mit Blitzen gespickt, färbte sich rotorange ein, zerfranste in das dunkle Blaugrau und erlosch im Norden, nachdem sie den Auenweg nachgezeichnet hatte.
Den ganzen Samstag starrte ich in die Wolken. Wie konnten Blitze in ihnen wohnen? Schlaflos um Mitternacht wanderte ich von Fenster zu Fenster. Im Norden, über dem Hof der an den Ausstellungsraum grenzt, entdeckte ich sie dann. Nicht die Wolke, die hatte weiter östlich ihre Bahn gezogen, aber schon bis hierher etwa. Es waren Lichtkreise. Drei an der Zahl, die ihrerseits ruhig im Kreis schwebten. Dann begannen sie zu tanzen. Ich öffnete das Fenster und suchte im Hof nach einer Ursache. Stand dort jemand mit einem Laser oder etwas Ähnlichem? Nichts zu sehen. Das Lichtspektakel am Himmel wurde wilder. Die Kreise oder Kugeln jagten sich und dann schoss eine mit einem Blitzschweif zur Seite ins Tiefe. Danach tauchte sie wieder auf, der Reigen verlangsamte sich, die Kugeln schwebten freundlich und der Tanz begann von vorn. So ging es einige Male. Ob die Anzahl der Kugeln sich änderte kann ich nicht genau sagen. Einmal lenkte mich die hell erleuchtete Krone der Linde ab. Das war der Lichtkegel vom Scheinwerfer eines auf der nahen Landstraße vorbeifahrenden Autos, keine mystische Beleuchtung durch die Kugeln. Ich sah sie noch kurze Zeit danach über dem Hof schweben, dann waren sie verschwunden. Ein paar Schritte später gab es einen grellen Blitz, den ich vom Ostfenster aus, an das ich meinen Standort gewechselt hatte, noch mitbekommen habe. Danach blieb alles still.
Mit der Ausstellung verbinde ich diese Erscheinung vor allem wegen des Designs vom Buchumschlag, den Hanne Ida gestaltet hat. Als ich am Sonntag früh versucht habe, die Kugeln zu beschreiben, fiel mein Blick auf die Einladungskarte. Die Kreise und Linien erinnerten mich sofort an die Lichtkreise wie sie zwischen den Baumwipfeln im Hof kreuzten. So sind unsere Gedankenblitze und Assoziationsmuster, so ist Kunst. So kann ein 100jähriges Ereignis sich einprägen und auf die nächsten hundert Jahre setzen.

Begegnung im Grenzland.
Die Kaffeetafel – eine Sammlung von Dingen und Gedanken

Es gibt einen Sockel, eine Plexiglasregal und eine quadratische Box aus Plexiglas. Mittig auf dem dunklen Sockel steht ein Glasturm mit vitrinenartig übereinandergestapelten Glasbehältern. Unten ein Kubus mit vier dunkelroten Weinkelchen. Der Schliff folgt einer Blütenanordnung. Eine Rose, rot wie Blut. Darüber Porzellanrosen in Zylindern. Zwei rosa Rosen zuerst. In der nächsten Etage eine weiße Rose. Bekrönt ist der Glasturm von einer Zwiebelkuppel, in der ein Glastropfen hängt. Eine blassblaue Träne. Blau wie der Himmel in einem Glas. Ein Korken mit einer Sonnenblume aus Keramik schließt das Glas ab.
Um den fragilen Glasturm herum gruppieren sich Kaffeetassen und kleine Teller mit blauem Blumendekor. Kleine spitze Kornblumenblüten.

Neben dem Sockel befindet sich das Plexiglasregal. Das untere Fach ist leer. Im oberen Fach sitzt eine aus Tonplatten stilisierte Figurine umgeben von Rosenblüten, die sie zu umfassen scheint wie ihren eigenen Körper. Im mittleren Fach darunter findet sich eine bäuchlings hockende Terrakotta-Figurine, die klagend ihren Kopf in den Händen in die Höhe reckt. Sie ist umgeben von Blütenblättern. Rosenblütenblättern. Ihr Kopf scheint eines davon zu sein. Zwei weiße Rosen auf dem Rücken sind noch intakt. Oben auf dem Regal findet sich die Kaffeekanne zu dem Kaffeegeschirr und noch einige Tassen und Teller.

Vor dem dunklen Sockel steht der Kubus gefüllt mit Rosenblüten und Blättern, die sich am Grund des Behälters bereits wieder in Erde verwandeln.

Kann man sagen, eine Ansammlung von Dingen, die mit Begegnung zu tun haben? Kann man mit Dingen kommunizieren?

Das Kaffeetrinken ist eine Form der Begegnung im Kaffeehaus, sofern man in der Stadt wohnt, im Privaten, sofern man auf dem Land wohnt. Und wir wohnen auf dem Land. Die Grenze zerschneidet das Land.

Das Geschirr ist Ausweis von Wohlstand und Geschmack. Mode. Gesinnung? Das Glas ist zerbrechlich. Als Turm besonders. Die Blumen weisen auf Kultur und Natur. Landkultur und Gartenkultur. Die Blume der Liebe in den Farben derselben und der Unschuld. Eine Märchenkombination: Schneeweißchen und Rosenrot. Dazu die Blume des Feldes mit der Farbe der Treue. Kornblumenblau. Auch die Farbe der Trunkenheit. Dazu die Kelche und der Tropfen. Blut und Tränen. 
Die Figurinen erzählen eine eigene Geschichte. Sie hat mit Rosen zu tun und offenbar mit einem Drama. Wir können nicht wissen, was geschehen ist. Wir sehen nur die Zärtlichkeit, die Trauer und die Klage. Gibt es eine Schuld oder Unschuld? Ist es nur die Vergänglichkeit, wie sie im Plexiglaskubus vorgeführt wird? Besteht die Hoffnung darin, dass jedes Ereignis in Vergessenheit gerät und Neues entstehen kann? Stehen Farben für bestimmte Werte? Dürfen Blumen dafür eingesetzt werden? Enden Freude und die Freiheit, die Schönheit gar, wenn allem politische Bedeutung und Gesinnung beigemessen wird?

Einige Themen, um sich bei einer Kaffeetafel zu unterhalten. Und einiges Geschirr und Glas, das zu Bruch gehen kann. Und wer hat keine Erfahrung mit Porzellan und Glas, Blumen, Blut und Tränen?